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5. Naturallegorik

Dem vorwiegend transzendenten Charakter der Barockdichtung widersprechen die häufigen Naturbetrachtungen keineswegs. Diese sind niemals Selbstzweck. Wenn die Natur beschrieben und gelobt wird, dann immer als Schöpfung Gottes. Sie ist eine natürliche Offenbarung; aus der Natur kann man auf ihren Schöpfer schließen. Die finstere Nacht bedeutet in einem Barock-Gedicht daher immer auch die Gottesferne, die helle Sonne wird zum Zeichen des göttlichen Lichts, und ein schöner Garten verweist auf das Paradies. Aufgabe des Menschen ist es, sich in die göttliche Harmonie der Schöpfung einzufügen. Tut er es nicht, so ist das seine Schuld und seine Sünde. In der Kunst soll diese göttliche Harmonie dargestellt und nachgeahmt werden. Die Dissonanz gehört durchaus dazu; aber sie wird aufgelöst und überwunden. Es geht nicht so sehr um persönliche Gefühle und Meinungen, sondern um allgemeingültige Ordnungen.

Textbeispiel II: Paul Gerhardt (1607-1676)

Abend-Lied

NUn ruhen alle Wälder /

Vieh / Menschen / Städt und Felder /

Es schläfft die gantze Welt:

Ihr aber meine Sinnen /

Auf / auf ihr solt beginnen

Was eurem Schöpffer wol gefällt.

Wo bist du Sonne blieben?

Die Nacht hat dich vertrieben /

Die Nacht des Tages Feind:

Fahr hin / ein andre Sonne

Mein Jesus / meine Wonne /

Gar hell in meinem Hertzen scheint.

Der Tag ist nun vergangen:

Die güldnen Sternlein prangen

Am blauen Himmels-Saal:

So / so werd ich auch stehen /

Wann mich wird heissen gehen

Mein GOtt aus diesem Jammerthal.

Interpretationshinweise: In diesen ersten drei von insgesamt neun Strophen eines Kirchenlieds führt der Dichter das Naturbild vom Anbruch der Nacht vor Augen, stellt aber zugleich die Antithese zum inneren Seelenleben des Menschen her. Die „Welt“ schläft, die „Sinnen“ wachen. Dazu nutzt er konsequent die Zweiteilung der Liedstrophe mit einer deutlichen Pause in der Mitte. Andererseits schafft er aber auch die Einheit jeder Strophe, indem der letzte Vers immer um eine Betonung länger ist und damit den Strophenabschluß markiert. So werden die Antithesen (Nacht-Tag, Schlafen-Wachen, Leben-Tod) schon formal zu einer Ganzheit zusammengefaßt, die dann auch der Tendenz des Ganzen dient, diese Antithesen in Analogien umzudeuten. So werden Schlafen und Sterben einander angenähert mit dem Ziel, die Zuversicht in Gott zu stärken. Die erste Strophe bietet eine Aufzählung (enumeratio) der Lebensbereiche: Pflanzen, Tiere, Menschen, für die noch in Land und Stadt unterschieden wird. Die Zusammenfassung mit „gantze Welt“ schafft eine abgerundete Ruhe und Sicherheit. Die zweite Strophenhälfte setzt mit einem „aber“ die Wachheit der inneren „Sinne“ entgegen, die ihren „Schöpffer“ loben sollen. Die Aufforderung „Auf / auf“ mit ihrer Doppelbetonung schafft eine geistige Wachheit, der die Ruhe und Sicherheit der Natur erst noch vermittelt werden muß. Die beiden Strophenhälften können daher sowohl als Gegensatz, wie als Steigerung verstanden werden, und diese Ambivalenz nutzt Gerhardt im ganzen Gedicht, um die weltlichen Antithesen in religiöse Analogien umzudeuten. So ist Jesus in der zweiten Strophe die „andre Sonne“, die im „Hertzen“ des Menschen scheint. Auch wenn in der dritten Strophe der weltliche „Tag“ dann „vergangen“ ist, leuchten die „güldnen Sternlein“ sogar im „Jammerthal“ dieses Lebens noch Himmelslicht und Vorausdeutung auf die ewige Seligkeit. Die zeitliche Vergänglichkeit wird durch das ewige Leben überwunden. Gerhardt nutzt dabei die traditionelle Doppeldeutigkeit von „Himmels-Saal“ als irdisches ‚Firmament’ und jenseitiges ‚Paradies’. Der „Schöpffer“ hat in die materielle Natur geistige Hinweise auf das Wesen der menschlichen Seele gelegt.

Aufgabe 5a

Erklären Sie den allegorischen Charakter der barocken Naturdichtung!

Aufgabe 5b

Chrakterisieren Sie Gerhardts poetische Technik und sein poetisches Ziel!