21. Erotik: carpe diem
Aus der Erkenntnis der irdischen Vergänglichkeit (vanitas) lassen sich in der Barockdichtung zwei entgegengesetzte Folgerungen ziehen: die Abwendung von der Eitelkeit der Welt (memento mori) mit Hinwendung zu Gott oder aber der Aufruf zum Lebensgenuß (carpe diem). Diese Widersprüchlichkeit beim selben Autor irritiert, wenn man das Lyrische Ich mit dem Autor gleichsetzt. Die Carpe-diem-Gedichte sind aber gewöhnlich satirisch-ironische Porträts eines Liebhabers, der seine Geliebte zum Sexualakt überreden will. Das wird besonders deutlich, wenn diese Geliebte einen konventionellen Decknamen hat wie Phyllis, Lesbia, Melinde oder Albanie. Auch das männliche Ich ist dann ein Rollenporträt, das die unvernünftige Affektbefangenheit des Redenden darstellen soll. Immerhin ist die barocke Deutlichkeit, mit der explizite Sexualpraktiken veranschaulicht werden, bemerkenswert. Dies kann erklären, warum die doch so religiöse Barockdichtung in späteren Jahrhunderten als unmoralisch kritisiert werden konnte.
Textbeispiel VI: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679)
An die Phillis
Der und jener mag vor mir
Das gelobte land ererben;
Laß mich / Phillis / nur bey dir
Auf den hohen hügeln sterben.
Interpretationshinweise: Dieses kurze Epigramm ist ein eher harmloses Beispiel für Hoffmannswaldaus Spezialität, sexuelle Wünsche mit religiösen Metaphern auszudrücken. Das ‚Sterben’ auf den ‚hohen Hügeln’ meint natürlich den ‚kleinen Tod’ in der sexuellen Erleichterung auf den Brüsten der Geliebten. Zugleich erinnert die Bezeichnung des weiblichen Schoßes als ‚gelobtes Land’ an Moses, der das von Gott versprochene Land nur von den Bergen herab sehen, aber nicht betreten durfte (5. Mose 34,1 ff.). Die Frivolität des Lyrischen Ichs liegt aber auch darin, daß es ihm offenbar ausschließlich um das Erreichen seines sexuellen Ziels geht und es ihn gar nicht kümmert, ob ‚der und jener’ auch schon da war.
Aufgabe 21a
Erklären Sie den Zusammenhang von Vanitas, Memenro-mori und Carpe-diem!
Aufgabe 21b
Zeigen Sie am Textbeispiel Merkmale einer Rollenrede des Lyrischen Ichs!