3. Historischer Hintergrund
Die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts ist nur vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges (1618-48) zu verstehen. Die religionspolitischen Spannungen zwischen katholischen und protestantischen Mächten im Heiligen Römischen Reich führten am 23. Mai 1618 zum ‚Prager Fenstersturz’, der Ermordung kaiserlicher Beamter durch böhmische Protestanten. In der Folge setzten die böhmischen Stände den katholischen Kaiser Ferdinand II. als König von Böhmen ab und wählten den reformierten Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz. Da mit der böhmischen Kurstimme für die nächste Kaiserwahl eine protestantische Mehrheit zustande gekommen wäre, konnte die katholische Partei dies nicht dulden. In diesen böhmischen Krieg mischten sich auf beiden Seiten bald ausländische Mächte wie Frankreich und Schweden ein, so daß er zu einem europäischen Krieg wurde, bei dem es schließlich mehr um machtpolitische als um religiöse Fragen ging. Im Westfälischen Frieden, der den Niedergang der kaiserlichen Zentralmacht zugunsten der Territorialmächte und den Aufstieg des Absolutismus beschleunigte, wurde der konfessionelle Status quo festgeschrieben: die Fürsten bestimmten die Religionszugehörigkeit ihrer Untertanen (cuius regio eius religio).
Textbeispiel I: Andreas Gryphius (1616-1664)
Thränen des Vaterlandes /
Anno 1636.
Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun /
Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.
Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.
Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun /
Die Jungfern sind geschänd’t / und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret.
Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr / als unser Stöme Flutt /
Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen
Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.
Interpretationshinweise: Das Alexandriner-Sonett im typisch wuchtigen Stil des Dichters ist einerseits eine realistische Klage über die Greuel des Kriegs. Instrumente („Posaun“) und Waffen („Carthaun“) werden ebenso benannt wie die katastrophalen Folgen der Gewalt. Am Ende kommt Gryphius aber zum wirklich Wichtigen: nicht nur körperliches Leben und materieller Besitz, sondern „auch der Seelen Schatz“ geht in dieser Kriegszeit verloren. Nicht nur die Opfer leiden, gerade die Täter haben die schlimmste Konsequenz ihrer Sündentaten zu tragen: den Verlust der ewigen Seligkeit. Diese religiöse Dimension ist aber auch vorher schon in der scheinbar nur faktischen Darstellung versteckt. Die Zeitangabe, daß ‚dreimal sechs’ Jahre seit dem Kriegsausbruch 1618 verflossen sind, ist nämlich einerseits eine richtige Berechnung des aktuellen Jahres 1636. Andererseits verweist ‚dreimal sechs’ aber als ‚666’ auf die Stelle in der Johannes-Apokalypse (13,18), wo vom Antichrist die Rede ist, der seine Macht vom Teufel hat (13,2). Im Krieg ist also der Teufel los, der es auf „der Seelen Schatz“ abgesehen hat.
Formal lassen sich Beobachtungen machen, die ganz im Dienst der Aussage stehen. In Vers 3 muß man das Wort „Blutt“, obwohl es im Jambus an unbetonter Stelle steht, sinngemäß betonen, so daß eine schwebende Betonung entsteht, die dem Bild einen schweren Nachdruck verleiht. Einen ähnlichen Effekt macht der Binnenreim in Vers 4: „Schweiß / und Fleiß“. Charakteristisch für Gryphius ist die lapidare Aufzählung (enumeratio) etwa in Vers 8 und ihre Wiederaufnahme am Ende. Zur Schlußpointe führt dann ein doppelter Topos: „Doch schweig ich noch von dem“ ist ein Schweigetopos, der erst richtig auf das aufmerksam macht, was dann doch nicht verschwiegen wird; „was ärger als der Tod“ ist ein Überbietungstopos, der all die beschriebenen Greuel benutzt, um das eigentlich Schlimme zu verstärken. Sprachlich ist in Vers 11 das „fast“ im Sinne von ‚fest, ganz’ (nicht ‚beinahe’) ein Warnhinweis auf versteckte Schwierigkeiten beim Verständnis älterer Texte.
Aufgabe 3a
Beschreiben Sie die historische Problematik des Dreißigjährigen Kriegs!
Aufgabe 3b
Erklären Sie anhand des Gryphius-Sonnetts die religiöse Dimension des Kriegs!