Vorlesen, doch wie? Methoden und Vorschläge II.

Das interaktive Lesen empfiehlt sich Kindern, denen wenig oder überhaupt nicht vorgelesen wurde und auch Kindern, die gerade im Kindergarten oder zu Hause ihre zweite Sprache erwerben. Die Exkursionen und Wiederholungen helfen bei der Speicherung der Wörter. Dem natürlichen, kindlichen Erstspracherwerb gemäß werden die Bedeutungen aus dem Kontext erarbeitet und auf allen Sprachebenen gleichzeitig geübt und gelernt. Die grammatischen Strukturen erhalten sie ebenfalls mit dem Text. Der sprachliche Input steht mit dem bildlichen, visuellen Input im Einklang, was wiederum das Speichern unterstützt und auch motiviert. Gerade der Einklang der beiden Inputquellen schließt Doppeldeutigkeiten aus, die Eindeutigkeit hilft beim Wortschatzerwerb. Kinder lernen beim Bilderbuchbetrachten, beim Vorlesen unabhängig vom Schauplatz der Tätigkeit nicht, sie genießen die Zeit und eignen unbewusst und nebenbei mehr an, als bei bewusst hergeführten Übungen oder Aufgaben. Beliebige Bücher, sogar Fotoalben sind dem Zweck dienlich. Die Hauptsache ist, dass das Niveau dem Alter und dem Interesse des Kindes entspricht. Je jünger das Kind ist, desto mehr Bilder und weniger Text soll es beinhalten. Bilder (Tiere, Familienmitglieder, Spielsache usw.) spornen Kinder zum Sprechen und Nachahmen an. Ältere Kinder können schon längere Texte wiedergeben oder kreativ Texte vervollständigend ergänzen und beenden (Kraus, 2005).

    Natürlich hat das alte, bewährte Märchenerzählen auch seine Vorteile. Es liegt auf der Hand, dass sie im Bereich Hörverstehen erscheinen. Erwachsenen erzählen langsamer, ausdrucksstärker, wobei sie bei wichtigen Stellen, um die Spannung zu erhöhen mit dem Sprechtempo operieren. Sie können kurz anhalten oder langsamer erzählen oder aber betonen. Schon in Redefluss lassen sich die Wörter segmentieren, überhaupt dann, wenn das Märchen schon des öfteren gehört wurde. Die Lust zur Wiederholung wird dadurch erhöht, wenn Bilder, Handpuppen, Zeichnungen usw. auch Teil des Vorlesens bilden. Die Integration dieser Mittel unterstützt auch das Verstehen. Das Hörverstehen kann wie die erste Treppe einer Stufe vorgestellt werden, es bildet die Basis im Erwerb. Auf diese Stufe gebaut, können die Kinder die Wörter nach dem Verstehen aussprechen, sie werden die Satz- und Wortakzente, den Sprachrhythmus anwenden und üben. Auch können sie aus diesen Texten Kollokationen (Es war einmal… usw.) und syntaktische Strukturen erlernen. Das bildet die Grundlage für das Nacherzählen, Erzählen, zuerst mündlich und dann auch schriftlich. Genügend Satzmuster und Wortmenge stehen während des Vorlesens für die Kinder zur Verfügung. Die Kinder kommen in Besitz von Ausdrücken aus den Bilderbüchern, die abwechslungsreicher, expliziter sind, als die in der Alltagssprache. Eine Sprache erwerben wir, indem wir sie auch sprechen, auch das Erzählen und das Nacherzählen müssen geübt werden. Die interaktive und abwechslungsreiche Begegnung mit literarischen Texten bildet die Grundlage zum Leser zu werden und auch zum fachkundigen Umgang mit Texten. Diese prä- und paraliterale Form der Kommunikation, die ritualisiert und prototypisch ist, bereitet auf die Schriftlichkeit vor, denn es ist ein Zusammenspiel der Erfahrungen, die die Kinder in ihrer Laufbahn als aktiver Zuhörer in alltäglichen Vorlesesituationen über und durch die Sprache erwarben (Birkle, 2012:23):

 

- Geschichten, Gedichte, Reime werden bekannt,

- das Gefühl für Rhythmik, Melodie und Betonung der Sprache entsteht, Alliteration und Reime werden bewusst,

- sie werden sich dafür interessieren, wie die Sprache funktioniert,

- sie durchführen spielerische Tätigkeiten mit der Sprache (zeichnen über ein Märchen, singen usw.)

- sie hören dem schriftlichen Material offen und mit Interesse zu (Bilder, Bücher usw.) (Hoppenstedt−Appeltauer, 2010:30).

 

    Das aktive Beschäftigen mit literarischen Produkten, ihre Neukonstruktion, das Ab- und dann Wiederaufbauen der Geschehnisse, also durch ihre Ko-Konstruktion in sozialen Interaktionen werden die Kinder narrative Muster und den kontextfreien Sprachgebrauch üben. Alleine, von sich aus entwickeln sich diese Fähigkeiten, Kenntnisse nicht (Nauwerck, 2013).