Vorlesen, doch wie? Methoden und Vorschläge I.

            Bei einer Erhebung in den USA (Whitehurst et al, 1988) wurde festgestellt, dass 35% der Schulbeginner sprachliche Deffizite, insbesonders in den Bereichen Syntax und Wortschatz aufweist. Sie mutmassten, dass diesen Problemen die fehlende literarische Umgebung zu Grunde liegen kann, also die Tatsache, dass man diesen Kindern überhaupt nicht oder kaum vorgelesen wurde. Als Förderungmaßnahme nahmen diese Kinder sechs Wochen lang, täglich zehn Minuten an Vorlesebeschäftigungen teil, wobei ihre Teilnahme, ihre Äußerungen stets gelobt wurden. Nach dieser Periode, im Laufe einer Kontrollmessung wurde festgestellt, dass nicht nur der Wortschatz, die Satzkonstruktionsfähigkeiten und das Verstehen der grammatischen Konstruktionen der Kinder entwickelt werden konnten, so dass sie ihre Altersgenossen einholen konnten. Auch ihre Selbsteinschätzung und ihr Selbstvertrauen verbesserten sich erheblich, was ihre Beziehung zu den Erwachsenen positiv beeinflusste. Diese Ergebnisse wirkten längerfristig auf die schulische Laufbahn der Kinder aus.
        Dass die Bilderbücher auf die Sprachentwicklung eine fördernde Wirkung ausüben, wurde plastisch dargestellt, deneben wollen wir auch ihre bedeutende, ästhetische, emotionale und soziale Wirkung nicht vergessen. Dass das Bilderbuchbetrachten zu Hause mit geliebten Personen in der Entwicklung der Gefühle der Kleinkinder eine wichtige Rolle spielt, wurde ebenfalls erwähnt. Auf die Phase der ersten Sozialisation folgt die Epoche des Kindergartens, wo die Kinder unter der Leitung einer KindergärtnerIn an einer Vorlesesituation teilnehmen. Erwachsene und Kind werden gemeinsam den Inhalt und die Struktur interiorisieren. Das Tempo wird dabei an die Fragen und an das Interesse der Kinder angepasst. Auch der „Schaukelstuhleffekt” hat hier einen Platz, denn wenn das Kind danach verlangt, werden die Ebenen: das Bildbetrachten, das mündliche Erzählen und das schriftliche Vorlesen gewechselt. Auf diesen Begebenheiten basierend, schlugen Whitehurst und ihre Kollegen (1999:6) die Methoden des sogenannten dialogischen Vorlesens sowohl Eltern als auch ErzieherInnen vor. Heute wird der Begriff interaktives Lesen immer häufiger in der Fachliteratur verwendet, denn sie geht über das dialogische Lesen hinaus und umfasst auch die Mimik, die Gestik und alle Bereiche der Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen, die dem Erfassen vom Sinn der Wörter und Sätze dienen.
            In diesen Vorlesesituationen stehen nicht nur die Erwachsenen im Mittelpunkt, sondern auch die Kinder spielen ein aktive Rolle. Sie stören nicht, es ist sogar erwünscht, dass sie fragen, ihre Meinungen äußern. Der kompetente Erwachsene ergänzt, vervollständigt dann diese Bemerkungen, beantwortet die Fragen und stellt sie auch, damit ein Gespräch in den Gang kommt und erhalten bleibt mit dem Ziel eine Interaktion zwischen Kind und Erwachsenem zu entwickeln. In den folgenden Zeilen stellen wir den Ablauf des interaktiven Lesens vor (nach Kraus, 2005 und Mehler–Weitkamp, 2013):
 
 

Erwachsene

zwei-dreijährige Kinder

      vier-fünfjährige Kinder

Fragetechnik

  • einfache Fragen (Wer? Was? Wo? Wie?)
  • die Fragen der Kinder beantworten
  • weitere Fragen stellen  
  • komplexe Fragen (Warum?  Weil...)
  • Rückfrage, Erinnerungsfrage ("Weißt du noch...?")
  • Offene Fragen, Fragen, die sich auf die Erfahrungen der Kinder beziehen ("Ist dir das schon mal passiert?")

Reaktion auf die Äußerung der Kinder

  • Wiederholung
  • Hilfe (wenn nötig)
  • Expansion
  • Wiederholung
  • Hilfe (wenn nötig)
  • Expansion (Kind: "Da steht ein Hund." Erwachsene: "Ja, ein riesiger. Nicht wahr?")

Aufforderung

 

 

 

 

 

  • Satz ergänzen („Die Giraffe hat einen langen…"
  • die Geschichte mit eigenen Worten beenden
  • Die Ergänzungen mit den Kindern wiederholen lassen.
  • Objekte definieren, umschreiben.
 
 

Reaktionen auf die      Objekte identifizieren und  benennen

 kindlichen                   • Implizite Korrektur durch Wiederholungen

 Äußerungen                • Expansion kindlicher Aussagen