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22. Mystik

Mystik ist der Versuch des Individuums, mit dem Absoluten eins zu werden; im christlichen Sinne geht es also um die Einheit der Seele mit Gott in der ‚unio mystica’. Mystik bedeutet die radikale Abkehr von der Welt und Hinwendung zu Gott, der im Innern der Seele gesucht wird. Sie hat aber auch einen revolutionär subjektiven Kern, da dieser ‚göttliche Funke’ in jedem Menschen liegt. Durch Jakob Böhme (1575-1624) wird auch die protestantische Barockdichtung stark mystisch beeinflußt. Sein Schüler Abraham von Franckenberg (1593-1652) vermittelt dieses Denken an Johannes Scheffler, den bedeutendsten Mystiker unter den Barockdichtern, der sich nach seinem Übertritt zum Katholizismus Angelus Silesius nennt. Seine Epigramme bringen die mystischen Paradoxa auf den Punkt und erfüllen damit das barocke Ideal der Scharfsinnigkeit (argutia).

Textbeispiel VII: Angelus Silesius (1624-1677)

Gott lebt nicht ohne mich.

Jch weiß daß ohne mich Gott nicht ein Nu kan leben /

Werd’ ich zu nicht Er muß von Noth den Geist auffgeben.

Der Mensch ist Ewigkeit.

Jch selbst bin Ewigkeit / wann ich die Zeit verlasse /

Und mich in Gott / und Gott in mich zusamen fasse.

Die Liebe zwinget Gott.

Wo Gott mich über Gott nicht solte wollen bringen /

So will ich Jhn dazu mit blosser Liebe zwingen.

Gott ergreifft man nicht.

Gott ist ein lauter nichts / Jhn rührt kein Nun noch Hier:

Je mehr du nach Jhm greiffst / je mehr entwird Er dir.

Die Gleichheit schaut Gott.

Wem Nichts wie Alles ist und Alles wie ein Nichts,

Der wird gewürdiget des Liebsten Angesichts.

Interpretationshinweise: Angelus Silesius bedient sich hier der ‚negativen Theologie’ der Mystik, wonach man über Gott keine positiven Aussagen machen kann. Alle Eigenschaften, die man ihm beilegt, sind Vermenschlichungen und Verfälschungen. Das bedeutet, daß der menschliche Verstand und auch die Sprache beim Versuch der Gotteserkenntnis an ihre Grenzen stoßen, was zu paradoxen Formulierungen führt. Scheffler selbst hat in Fußnoten einige besonders gewagte Stellen erklärt. Daß Gott ein reines Nichts ist, bedeutet nur, daß er nicht mit dem menschlichen Denken in Raum und Zeit erfaßt werden kann. Daß er vom Ich abhängt, betrifft nur das Gottesbild, das sich der Mensch macht. Daß die Liebe Gott bezwingen kann, besagt nur, daß er selbst diese Liebe ist, die alles bezwingt. Durch ‚Entledigung’ von allen Eigenschaften und in der Liebe kann daher der Mensch die vollkommene „Gleichheit“ mit Gott erlangen: die ‚unio mystica’.

Aufgabe 22a

Erklären Sie das Ziel der Mystik!

Aufgabe 22b

Erläutern Sie an den Textbeispielen das Verhältnis des Subjekts zu Gott!