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I. Zum Begriff Moderne

1. Als allgemein verwendeter Begriff. Das Wort ‚modern‘ stammt vom lateinischen Adjektiv modernus, mit der Bedeutung ‚neu‘, ‚neuzeitlich‘, ‚gegenwärtig‘. Dieser auch außerhalb Europas weit verbreitete Begriff wird sowohl im Alltagsleben als auch in der Kunst und Literatur verwendet. In beiden Fällen wird die Sache, Erscheinung usw., auf die sich das Attribut bezieht, meistens positiv konnotiert, indem sie den Merkmalen wie ‚alt‘, ‚veraltet‘ gegenüber gestellt werden. In diesem umfassenden Sinne ist das Wort auch nicht an bestimmte Zeit bzw. Epoche gebunden. So können wir den Literaturstreit der Alten und der Neuen (Querelle des Anciens et des Modernes) in Frankreich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert  als paradigmatische Debatte betrachten, denn er stellt die Abgrenzungsbestrebungen der jüngeren Literaten und Künstler  gegenüber der älteren Generation dar (so z. B. auch  in Aufklärung, Romantik und Jungem Deutschland).

2. Als literatur- und kunsthistorischer Begriff stellt das Wort ‚Moderne‘ eine (ebenfalls vage) Epochenbezeichnung dar, deren zeitliche Eingrenzungen unterschiedlich sind. So wird sie bei manchen Forschern auf die große Zeitspanne erweitert, die „das gesamte 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein" umschließt. Nach dieser Konzeption handelt es sich „um die große Aufbruchsbewegung der eigentlichen, universellen Moderne, die, ungeachtet nationalgeschichtlich bedingter Ungleichzeitigkeiten, die europäische Kunst- und Literaturentwicklung in ihrer Gesamtheit bestimmt hat". (Mennemeier I, 12)

Meistens wird aber der Begriff auf die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, die Jahrhundertwendezeit und die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bezogen, auf die Zeitperiode also, die den Naturalismus und seine „Gegenrichtungen" (Symbolismus, Impressionismus, Jugendstil) sowie die avantgardistischen Richtungen einbezieht. Nicht einmal mit dieser Einschränkung können wir aber von homogenen Erscheinungen sprechen.  Gemeinsames Merkmal ist nämlich bei ihnen eigentlich nur die radikale Erneuerung, der programmatische Wunsch der Absonderung von vorangegangenen Kunsttendenzen. Während aber der Naturalismus ­ vor allem in thematischen Bereichen Neues gebracht hat, sind die ästhetischen Innovationen bei den Fin de siècle-Richtungen eindeutig. Am radikalsten erwiesen sich die verschiedenen Richtungen der Avantgarde, die nicht nur alle bisherigen Richtungen der Kunst und Literatur abgelehnt haben, sondern auch die gesamte bürgerliche Gesellschaft, die diese ihre Kultur geschaffen hat. Der skizzenhafte „Überblick" sowie die „Erläuterungen zum Überblick der Moderne" geben kurze Erklärungen über diese Zusammenhänge.

In Deutschland hat Eugen Wolff den Begriff „die Moderne" für die Literatur des Naturalismus in seinem Essay Die Moderne. Zur „Revolution" und „Reform" der Litteratur (1886) verwendet. In demselben Jahr sind die (von ihm verfassten) Thesen des Literaturvereins „Durch!" erschienen. Unter den auch die folgenden Programmpunkte:

5. Die moderne Dichtung soll den Menschen mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit zeichnen, ohne dabei die durch das Kunstwerk sich selbst gezogene Grenze zu überschreiten, vielmehr um durch die Grösse der Naturwahrheit die ästhetische Wirkung zu erhöhen.

6. Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne.

7. Bei solchen Grundsätzen erscheint ein Kampf geboten gegen die überlebte Epigonenklassizität, gegen das sich spreizende Raffinement und gegen den blaustrumpfartigen Dilettantismus.

„Damit war gewissermaßen eine neue kulturelle Epoche ins Leben gerufen - die programmatische Moderne." (Kiesel 13)

Der österreichische Hermann Bahr, der alle Richtungen („Ismen") der Jahrhundertwende in sich aufgenommen und kritisch kommentiert hat, weitete den Moderne-Begriff auf die Gegenströmungen des Naturalismus aus. In seiner Schrift Die Moderne spricht er von der Herausforderung des Lebens, dem der Geist zurückgeblieben ist:

Die Moderne ist nur in unserem Wunsche und sie ist draußen überall, außer uns. Sie ist nicht in unserem Geiste. Sondern das ist die Qual und die Krankheit des Jahrhunderts, die fieberische und schnaubende, dass das Leben dem Geiste entronnen ist. Das Leben hat sich gewandelt, bis in den letzten Grund, und wandelt sich immer noch aufs neue, alle Tage, rastlos und unstät. Aber der Geist blieb alt und starr und regte sich nicht und bewegte sich nicht und nun leidet er hilflos, weil er einsam ist und verlassen vom Leben. (189)

In Die Überwindung des Naturalismus hebt Bahr die wesentlichsten Merkmale der Fin de siècle-Richtungen hervor  - das Individuelle und das Irrationale:

Das Eigene aus sich zu gestalten, statt das Fremde nachzubilden, das Geheime aufzusuchen, statt dem Augenschein zu folgen, und gerade dasjenige auszudrücken, worin wir uns anders fühlen und wissen als die Wirklichkeit. (200) [...] Ich glaube also, daß der Naturalismus überwunden werden wird durch eine nervöse Romantik; noch lieber möchte ich sagen: durch eine Mystik der Nerven. (202)

Eine neue Phase der Moderne stellen die Bewegungen der klassischen Avantgarde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dar. Für alle Perioden der Moderne gilt „der länderübergreifende Charakter", der „neben den regionalen Aspekten (siehe Berliner Moderne, Wiener Moderne)" in der neueren Forschung immer mehr betont wird (Köster).