Erläuterungen zu den skizzierten Zusammenhängen
Die hier schematisch skizzierten Zusammenhänge zwischen den einzelnen Richtungen bzw. Phänomenen können nicht alle Beziehungen veranschaulichen, sie möchten nur die wichtigsten unter ihnen hervorheben. Die unterschiedliche Pfeilform und -größe markiert die Relevanz der bestehenden Verknüpfungen.
1) Auf die unmittelbare Verbindung zwischen dem Realismus und dem Naturalismus verweist u.a. auch der Umstand, dass sich der Naturalismus als „konsequenter Realismus" verstand. Der Radikalismus in der Wirklichkeitsdarstellung führte allerdings oft zu Nivellierung. Während nämlich im realistischen Werk die Hervorhebungen von bestimmten Erscheinungen und Ereignissen notwendigerweise eine Art Werthierarchie ergeben, scheint für die Naturalisten alles wichtig zu sein. Davon zeugt zumindest auch der sog. Sekundenstil.
2) Die vom Realismus ausgehende und zur Neuen Sachlichkeit bzw. zum Sozialistischen Realismus führende gestrichelte Linie verweist darauf, dass diese beiden Darstellungsmethoden nur zum Teil realistisch genannt werden können, weil die Stilisierung - zwar aus unterschiedlichen ideologischen und ästhetischen Gründen - in beiden Fällen eine wichtige Rolle spielt.
3) Die vielfältige Gegenüberstellung zwischen dem Naturalismus und den Fin de siècle-Richtungen wird im ersten Kapitel (Die Überwindung des Naturalismus) ausgeführt. Hier sei nur so viel erwähnt, dass der Naturalismus trotz der gravierenden Unterschiede doch zur Moderne gezählt werden kann, denn er hat manche Erneuerungen (vor allem in thematischen Bereichen) in die Literatur gebracht.
4) Die Opposition zwischen dem Naturalismus und der Avantgarde verweist darauf, dass die avantgardistischen Richtungen infolge ihrer radikalen antimimetischen Kunstauffassungen den Naturalismus im Voraus ablehnen.
5) Die Avantgarde (in Deutschland: der Expressionismus) wird durch die Neue Sachlichkeit abgelöst, die statt Pathos und Experiment eine nüchtern beobachtende Position in der Kunst und Literatur vertritt. Ähnliche Prozesse sind auch in anderen Ländern des Nachkriegseuropas (z.B. Frankreich, Ungarn) zu erfahren.
6) Manche Erscheinungen der Romantik werden in den Fin de siècle-Richtungen neu belebt, allerdings in einer anderen gesellschaftlichen und literarischen Umgebung. Darauf weist auch der vage Begriff der Epoche ‚Neuromantik‘ hin.
6 a-b) Die Wechselwirkung zwischen Romantik und Realismus wird hier nur angedeutet.
7) Die Fin de siècle-„Ismen" und die avantgardistischen Richtungen gehören zwar unter dem Begriff ‚Moderne‘ zusammen, insofern sie zwei Phasen der Erneuerungswellen der Epoche darstellen, die Manifeste der avantgardistischen Richtungen grenzen sich aber kategorisch von jeglichen vorangegangenen Richtungen ab. Von dieser Gegenüberstellung zeugen ferner sowohl die radikalsten ästhetischen Konzepte als auch die bis zum Nonsens führende experimentierende Praxis, die eigentlich kaum Gemeinsames mit der Fin de siècle-Moderne aufzeigen. Ebenfalls auf deutliche Trennungslinie zeigt der in unterschiedlichsten Formen auftretende ideologische bzw. politische Radikalismus in der Avantgarde, der bei den vorangegangenen Richtungen überhaupt nicht vorhanden war. Deshalb sind jene literaturhistorischen Auffassungen, die die Grenzen zwischen diesen beiden Phasen eher aufzuheben trachten, wohl nicht haltbar.
8-9) Nur scheinbar wiederspricht dem unter dem Punkt 7 Erwähnten, dass es bestimmte Einflüsse doch vorzufinden sind, so z.B. der vom dem Symbolismus auf den Surrealismus und der des Jugendstils auf den Expressionismus.
10) Die englische Künstlergruppe ‚Präraffaeliten‘ hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit ihrer flächig-teppichartigen Stilisierung den Jugendstil inspiriert.
11) Die irrationalen Tendenzen, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die rationalistische Denkmethode, den Positivismus abgelöst haben, sind, wenn auch auf verschiedene Weise und in unterschiedlichem Maße, in den Fin de siècle-Richtungen meistens vorhanden. Dabei muss es auch in Betracht ziehen, dass die irrationalen Züge in den hier erwähnten philosophischen Richtungen nicht gleichmäßig vorherrschen. Absolut dominierend sind sie im Mystizismus, der z.B. den russischen Symbolismus in der vorrevolutionären Zeit weitgehend bestimmt hat. Bedeutend sind sie ferner auch in den von Schopenhauer, Nietzsche (als Vorläufer) sowie von Bergson und Dilthey vertretenen Lebensphilosophien und weniger in der Geistesgeschichte.
12) Das Wort Dekadenz gehört im Zusammenhang mit dem des Fin de siècle zu den meist gebrauchten Begriffen. Es drückt sowohl eine symptomatische seelische Disposition und allgemeine Haltung als auch eine typische Künstlerattitüde aus, die zum Teil auch mit dem romantischen ‚Spleen‘ verwandt ist, zumindest in der affektierten Lebensmüdigkeit. Viel allgemeiner stellt die Dekadenz die Essenz der Untergangsstimmung in der spätbürgerlichen Gesellschaft dar. Im Bereich der Kunst und Literatur ist die Erscheinung mit dem Ästhetizismus eng verbunden. Denn die beiden sind genaue Anzeichen einer hypersensiblen seelischen Konstitution und eines überverfeinerten Geschmacks, der oft sogar auch ästhetisierter Lebensform zum Ausdruck kommt. (→16-17)
13) Ästhetizismus ist organischer Bestandteil der Fin de siècle-Richtungen. Das zeigt sich vor allem in der perfekten Formkunst.
14) L'art pour l'art („die Kunst um der Kunst willen"): kunsttheoretisches Programm französischer Dichter Mitte des 19. Jahrhunderts (Parnassiens), das der künstlerischen Form den absoluten Vorrang gibt. Die Auffassung, dass die Kunst Selbstwert oder sogar den höchsten Wert darstellt, lebt auch im Ästhetizismus weiter, verbunden häufig mit dem Lebens- und Kunstgefühl der Dekadenz.
15) Der Positivismus bildet den philosophischen Hintergrund des Naturalismus. Der Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit, so wie sie in den Naturwissenschaften zu erwarten ist, hat manche wichtige Anregungen auch der Literatur(wissenschaft) gegeben. So z.B. Zolas Romantheorie und die theoretische Schriften des deutschen Naturalismus (Wilhelm Bölsche: Die Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, Arno Holz usw.) Die fehlende Synthese führte dann zur Einsicht, dass die Geisteswissenschaften eigenständige Methoden brauchen.
16-17) Die Zusammenhänge stellen die (häufigen) Wechselwirkung zwischen Ästhetizismus und Dekadenz dar. (→12)
18) Der Irrationalismus, vor allem dessen extreme Erscheinungsformen wie Mystizismus, diente oft als Nährboden für die Dekadenz.
19) Das ursprüngliche Ideal von L'art pour l'art ging bei den französischen Parnassisten auf den bedingungslosen Anspruch auf die formale Vollendung. Das aber verlangte rationale Einsichten und objektive Kunstfertigkeit.
20) Der von Auguste Comte begründete Positivismus als philosophische Richtung und wissenschaftliche Methode setzte den aufklärerischen Optimismus in modernerer Form fort. Der Glaube an die alle Probleme lösende Vernunft, an die Allmacht der Wissenschaften erwies sich aber auch im 19. Jahrhundert als Utopie und wurde in der Kunst und Literatur durch das pessimistische Weltbild der irrationalen Theorien abgelöst.
21) Der Positivismus lebt in der Philosophie in verschiedenen Formen, wie logischer Empirismus, Neopositivismus und analytische Philosophie weiter - allerdings mit ganz anderen Fragestellungen. Hierher gehört auch die Wiener Schule, deren emblematischer Vertreter, Wittgenstein, mit seiner sprachphilosophischen Skepsis zugleich auch auf die Wiener Moderne einen starken Einfluss ausgeübt hat.