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Hilda Schauer - Gedächtnis und Literatur

1

Welche sind Ihre frühesten Erinnerungen aus der Kindheit? Warum sind überhaupt Erinnerungen an Ereignisse Ihres Lebens besonders wichtig?

2.

W. G. Sebalds Romanheld, Austerlitz, ist im Haus eines calvinistischen Predigers in Wales aufgewachsen. Die Zieheltern haben alle Spuren seiner Vergangenheit verwischt. Die frühkindliche Zeit ist in ihm nicht in Erinnerung geblieben, es sind nur einige beklemmende Gefühle, die er nicht vergessen kann. Eine Zeit lang gelang es ihm noch, die Gesichter der Mutter und des Vaters heraufzubeschwören. Er musste aber mit der Zeit begreifen, dass er nicht mehr zu Hause war.

„Seit meiner Kindheit und Jugend, so hob er schließlich an, indem er wieder herblickte zu mir, habe ich nicht gewußt, wer ich in Wahrheit bin. Von meinem heutigen Standpunkt aus sehe ich natürlich, daß allein mein Name und die Tatsache, daß mir dieser Name bis in mein fünfzehntes Jahr vorenthalten geblieben war, mich auf die Spur meiner Herkunft hätten bringen müssen, doch ist mir in der letztvergangenen Zeit klargeworden, weshalb eine meiner Denkfähigkeit vor- oder übergeordnete und offenbar irgendwo in meinem Gehirn mit der größten Umsicht waltende Instanz mich immer vor meinem eigenen Geheimnis bewahrt und systematisch davon abgehalten hat, die naheliegendsten Schlüsse zu ziehen und die diesen Schlüssen entsprechenden Nachforschungen anzustellen.“
(W. G. Sebald: Austerlitz.Frankfurt am Main, 2003, S. 68 f.)

Das obige Zitat zeugt davon, dass alle Erfahrungen, die man selbst erlebt hat, Teil des autobiographischen Gedächtnisses sind. Für die episodischen autobiographischen Erinnerungen gilt zudem, dass sie zeitlich und räumlich zugeordnet werden können und von Emotionen begleitet sind. Es ist auch klar geworden, dass sie ohne Unterstützung einer sozialen Gemeinschaft nicht erhalten bleiben. Der kurze Textauszug beweist, dass es verschiedene Formen des Gedächtnisses gibt. Um verschiedene Inhalte und Strukturen der Erinnerung und des Gedächtnisses kennenzulernen, werden die Grundformen des Gedächtnisses in den nächsten Aufgaben vorgestellt.

3.

Lesen Sie das Unterkapitel 1.3. mit dem Titel Aleida Assmann: Drei Formen von Gedächtnis in der Fachliteratur!
(Grundwissen Kultur- und Medienwissenschaft II. Gedächtnis – Identität – Interkulturalität. Ein Kulturwissenschaftliches Studienbuch. Hg. von Andrea Horváth u. Eszter Pabis. Bölcsész Konzorcium. Pécsi Tudományegyetem 2006. Anhang 1)

3.1.

Im ersten Schritt wird das kommunikative Gedächtnis definiert.

Wie können Erinnerungen aufgebaut und verfestigt werden?

Lesen und erklären Sie den folgenden Satz!

„Das kommunikative Gedächtnis entsteht in einem Milieu räumlicher Nähe, regelmäßiger Interaktion, gemeinsamer Lebensformen und geteilter Erfahrungen."
(Aleida Assmann: Drei Formen von Gedächtnis, S. 16)

Welche Folgen hat der Generationenwechsel für das Erinnerungsprofil einer Gesellschaft?
Was meinen Sie, warum eben 80-100 Jahre für das kommunikative Gedächtnis bestimmend sind? Warum wird das kommunikative Gedächtnis Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft genannt?

3.2

Als zweite Form des Gedächtnisses soll das kollektive Gedächtnis erörtert werden.

Im Unterschied zum kommunikativen Gedächtnis wird das kollektive Gedächtnis zu einem generationenübergreifenden sozialen Langzeitgedächtnis. Überlegen Sie sich, wie das möglich ist! In welchem Sinne ist das kollektive Gedächtnis ein politisches Gedächtnis?

Differenzieren Sie zwischen Sieger- und Verlierergedächtnis! Können Sieger mit Tätern und Verlierer mit Opfern gleichgesetzt werden?

Sammeln Sie passende Ausdrücke zu Opfergedächtnis und zu Tätergedächtnis!

Lesen Sie das folgende Zitat aus Christoph Ransmayrs Roman Morbus Kitahara!

„An solchen Tagen zerrann das Steinerne Meer zu einer konturlosen Barriere aus Felsen, Wolken und Eis – und unauslöschlich in Berings Erinnerung stand an diese Barriere geschrieben:

HIER LIEGEN
ELFTAUSENNEUNHUNDERTDREIUNDSIEBZIG TOTE
ERSCHLAGEN
VON DEN EINGEBORENEN DIESES LANDES
WILLKOMMEN IN MOOR

[...]

Natürlich versuchten sich die Bewohner von Moor, Leys und Haag und des ganzen Ufers gegen die Schrift im Steinbruch zu wehren – mit Protestbriefen, Unschuldsbeteuerungen auch einem dünnen Demonstrationszug über die Seepromenade – und selbst mit Sabotage: Zweimal brachen die Arbeitsgerüste um die Lettern unter angesägten Stangen, und auch die unerträgliche, über eine Länge von fast vierzig Metern hingesetzte Zahl von Toten wurde in einer Nacht wieder unleserlich geschlagen." (Christoph Ransmayr: Morbus Kitahara. Frankfurt am Main, 1995, S. 32 f.)

Belegen Sie auch mit anderen Zitaten aus dem Roman, dass die Moorer und die Besatzer unterschiedliche Erinnerungen haben! Was behaupten die Besatzer und was die Moorer?

3.3.

Wie kann das kulturelle Gedächtnis definiert werden? Auf welche symbolischen Formen stützt sich das kulturelle Gedächtnis?

4.

Vergleichen Sie die zeitliche Reichweite des kulturellen Gedächtnisses mit dem des kommunikativen! Sind Sie mit der folgenden Meinung einverstanden?

„Angesichts der Verbreitung von Gedächtnisspeichern und der begrenzten Kapazität des menschlichen Gedächtnisses beobachten wir eine zunehmende Externalisierung des Gedächtnisses und somit einen Trend hin zu der Notwendigkeit eines vergessenden und selektierenden Gebrauchs von archivierten Erinnerungen. Infolgedessen ist es wichtig zu erkennen, ohne einem gewissen technologischen Determinismus zu unterliegen, dass das Medium selbst die Formen, die das kulturelle Gedächtnis annehmen kann, prägt." (Christian Gudehus, Ariane Eichenberg u. Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, 2010, S. 94.)

5.

Ordnen Sie die folgenden Ausdrücke in die Kategorien „kommunikatives Gedächtnis" oder „kulturelles Gedächtnis" ein!

1. Kommunikatives Gedächtnis:_________

2. Kulturelles Gedächtnis:_________

materielle Träger, transgenerationell, befristet (80 bis 100 Jahre), Symbole und Zeichen, biologische Träger, Kommunikation, Monumente, Jahrestage, Riten, Texte, Bilder, entfristet.

6.

Welche Rolle spielen Medien in der Vermittlung zwischen der individuellen und der kollektiven Dimension von Gedächtnis und Erinnerung?

In schriftlosen Kulturen übernehmen neben der Sprache vor allem Rituale und Bräuche die Funktion, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Gleichzeitig treten hier in einigen Kulturen schon die Bilder als Erinnerungsträger auf. Auch die Gedächtnismedien Denkmale und Gedenkstätten ließen sich in dieser Frühzeit verorten. Ein weiterer Schritt in der kulturellen Entwicklung ergibt sich durch die Architektur und ihre Bauten. Die Architektur lässt Zeit gleichsam sichtbar werden, indem sie in einem Stadtbild, in Sakralbauten Gleichzeitigkeiten von ungleichzeitigen Vergangenheiten zeigt. Mit der Schrift kann Gedächtnis als enorme Speichermöglichkeit erkannt werden. Literatur als eines der zentralen Gedächtnismedien trägt zur Identität der Gesellschaften bei. Archive, Bibliotheken und Museen entstehen, um die Schriften und Gegenstände zu konservieren. Mit der Fotografie kommt ein weiteres Medium hinzu. Neue Medien entstehen in rascher Folge: Radio, Fernseher und Internet. (Vgl.: Christian Gudehus, Ariane Eichenberg u. Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, 2010, S. 127-128)

Orientieren Sie sich ausführlicher über die aufgezählten Medien des Erinnerns aus der Fachliteratur! Benutzen Sie dazu das folgende Buch: Christian Gudehus, Ariane Eichenberg u. Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, 2010, S. 127-246.

7.

Mit welchen traumatischen Erfahrungen sind die Identitätsstörungen der wichtigsten Figuren in Christoph Ransmayrs Roman Morbus Kitahara verbunden? Analysieren Sie die folgenden Zitate aus dem Werk!

„Noch Jahre später sollte dieser Vater, taub für die Schrecken der Geburtsnacht seines Sohnes, seine Familie mit der Beschreibung jener Leiden ängstigen, die er, er in diesem Krieg ertragen hatte. So trocknete Bering jedesmal die Kehle aus, und seine Augen brannten, wenn er wieder und wieder hörte, sein Vater habe als Soldat solche Durst gelitten, daß er am zwölften Tag einer Schlacht sein eigenes Blut trank.“ (Christoph Ransmayr: Morbus Kitahara, Frankfurt am Main, 1995, S. 10)

„Berings Mutter betete viel. Auch als der Krieg mit seinen Toten von Jahr zu Jahr tiefer in die Erde sank und schließlich unter Rübenfeldern und Lupinen verschwand, hörte sie in Sommergewittern noch immer das Donnern der Artillerie. Und in manchen Nächten erschien ihr die Heilige Maria wie damals und flüsterte ihr Prophezeiungen und Nachrichten aus dem Paradies zu. Wenn Berings Mutter nach dem Erlöschen Mariens ans Fenster trat, um das Fieber der Erscheinung zu lindern, sah sie das lichtlose Ufer des Sees und ein hügeliges Brachland, das in schwarzen Wogen auf noch schwärzere Bergketten zurollte.“ (Christoph Ransmayr: Morbus Kitahara, S. 10.)

„‘Zurückgekommen in den Steinbruch? Ich bin nicht zurückgekommen. Ich war im Steinbruch, wenn ich in den ersten Jahren der Stellamourzeit durch die Schutthalten von Wien oder Dresden oder durch irgendeine andere dieser umgepflügten Städte gegangen bin.’“ (Christoph Ransmayr: Morbus Kitahara, S. 210.)

8.

In welchen seinen Bedeutungen ist ihnen der Trauma-Begriff bekannt?

Deuten Sie einige Sätze aus Aleida Assmanns Trauma-Definition!

Aleida Assmann: Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Lutz Musner u. Gotthart Wunberg (Hrsg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen. Wien, 2002.

„Trauma steht für die nicht überwindbare Gegenwart eines vergangenen Geschehens, es besteht somit in der andauernden Gegenwärtigkeit einer bestimmten Vergangenheit.“ (S. 36)

„Trauma bezieht sich auf ein Ereignis, das nicht zurücksinkt in die Vergangenheit; es kann also nicht vergegenwärtigt, zurück-geholt werden, weil er selbst noch gegenwärtig ist.“ (S. 36)

„Mit diesem Begriff stößt die Vorstellung von der immer neuen Formbarkeit und Plastizität des Gedächtnisses in der Gegenwart an eine harte Grenze. Trauma bezeichnet in jeder Hinsicht das Gegenteil zur freien Konstruktivität: Hier geht es um die Nachwirkungen einer schmerzhaften Extremerfahrung, die nicht loszuwerden sind und Macht über das Individuum gewinnen.“ (S. 36)

9.

Wie kann sich menschliche Geschichte in Baugeschichte und Architektur spiegeln?

In welchem Sinne ist Architektur als Medium des kulturellen Gedächtnisses zu verstehen?

Erörtern Sie diese Fragen aufgrund der beiden Zitate aus W. G. Sebalds Erzählung Max Ferber in dem Band Die Ausgewanderten!

In W. G. Sebalds Erzählung Max Ferber nennt der Erzähler Manchester eine „beinahe restlos ausgehöhlte Wunderstadt aus dem letzten Jahrhundert“ (122). Es gibt Straßenzüge mit vernagelten Fenstern und Stadtteile, in denen alle Bauten niedergerissen wurden. Über das entstandene Brachland hinausblickend sieht man in der Entfernung riesige viktorianische Büro- und Lagerhäuser. In der Innenstadt sind noch die schwarz gewordenen Monumentalbauten aus dem 19. Jahrhundert zu sehen. Der Erzähler ist von der Vergangenheit der Stadt erschüttert, von der sich die Industrialisierung über die ganze Welt sich verbreitete. Die kolossalen Gebäude der Vergangenheit wirken verwaist. Auf seinen Spaziergängen kommt er in das gleich hinter dem Bahnhof gelegene vormalige Judenviertel, das von seinen Bewohnern aufgegeben und von der Stadtverwaltung dem Erdboden gleichgemacht wurde. Das Judenviertel ist ein Reich der Geschichts- und Bewusstseinslandschaft. Die auf der Fotoabbildung zu sehende ausradierte Fläche des alten Judenviertels symbolisiert unsere Erinnerung an die Vergangenheit, die immer weniger erkennbar und bald von neuen Erinnerungen ersetzt wird. Mit den abgerissenen Gebäuden verschwinden unsere Erinnerungen an das Viertel, in dem einst eine jüdische Gemeinschaft lebte.

Für den Erzähler ist Manchester die Verkörperung der Großen Industriellen Revolution:

1. Zitat

„Manchester, das damals in allen Ländern als ein an Unternehmergeist und Fortschrittlichkeit nicht zu überbietendes Industriejerusalem galt, sei, so sagte Ferber, durch die Vollendung des gigantischen Kanalprojekts überdies zum größten Binnenhafen der Welt aufgestiegen.“ (245)

Die größte Wirkung übten auf Ferber die Schlote aus:

2. Zitat

„Das Eindrucksvollste freilich, sagte Ferber, waren die, so weit man sehen konnte, überall aus der Ebene und dem flachen Häusergewirr herausragenden Schlote. Diese Schlote, sagte Ferber, sind heute nahezu ausnahmslos niedergelegt oder außer Betrieb. Damals aber rauchten sie noch, zu Tausenden, einer neben dem andern, bei Tag sowohl als in der Nacht. Es waren diese viereckigen und runden Schlote und diese ungezählten Kamine, aus denen ein gelbgrauer Rauch drang, die sich, so sagte Ferber, dem Ankömmling tiefer einprägten als alles, was er bis dahin gesehen hatte. Genau vermag ich es nicht mehr anzugeben, sagte Ferber, welche Gedanken den Anblick von Manchester damals in mir auslöste, aber ich glaube, daß ich das Gefühl hatte, angelangt zu sein am Ort meiner Bestimmung. (250 f.)

10.

Wie kann der Körper als Medium der Einschreibung, Speicherung und Transformation kultureller Zeichen funktionieren?

Lesen Sie das Textbeispiel aus W. G. Sebalds Erzählung Ambros Adelwarth! Welche Wirkung übte der Ausbruch des Krieges auf die nach Amerika zurückgekehrten Weltreisenden aus?

„In irrer Aufgeregtheit soll er bisweilen auch irgendwie mit den Kriegshandlungen in Zusammenhang stehende Wörter aneinandergereiht haben, und bei der Aneinanderreihung solcher Kriegswörter hat er sich anscheinend, als ärgere er sich über seine Begriffsstutzigkeit oder als gelte es, das Gesagte auf ewig auswendig zu lernen, mit der Hand immer wieder vor die Stirn geschlagen. Mehrfach geriet er darüber so außer sich, daß er nicht einmal den Ambros zu erkennen vermochte. Hingegen behauptete er, in seinem Kopf wahrzunehmen, was in Europa vor sich ging, das Brennen, das Sterben und das Verwesen unter der Sonne auf dem offenen Feld." (139)

Die erzählte Erscheinung ist in der Gedächtnisforschung unter dem Begriff Körpergedächtnis bekannt und man versteht darunter eine sich am und über den Körper vollziehende Erinnerungsfähigkeit, die sich mit Hilfe von Affekten artikuliert. Erlittene Schmerzen und traumatische Erfahrungen vollziehen sich an dem Körper, der so zum Kampfschauplatz historischer und innerer, seelischer Katastrophen wird.